B. Veyrassat: Histoire de la Suisse et des Suisses

Cover
Titel
Histoire de la Suisse et des Suisses dans la marche du monde. XVIIe siècle – Première Guerre mondiale: Espaces – Circulations – Échanges


Autor(en)
Veyrassat, Béatrice
Reihe
Les routes de l'histoire 1504
Erschienen
Neuchâtel 2018: Éditions Alphil
Anzahl Seiten
428 p.
Preis
€ 29,50; CHF 39,00
URL
von
Andreas Zangger

Die Wirtschaftshistorikerin Béatrice Veyrassat befasst sich schon seit ihrer Dissertation von 1982 mit der Exportwirtschaft und der kaufmännischen Migration. Nun präsentiert sie eine Synthese ihrer Studien – eine «lange Geschichte der schweizerischen Präsenz in der Welt» (S. 355). Ihr Werk behandelt einerseits den Anteil von Schweizern an der militärischen Eroberung und der wirtschaftlichen Aneignung der Kolonialgebiete, andererseits zeigt es die ökonomischen Reaktionen auf die Globalisierungsschübe in der Schweiz.

Das Buch ist willkommen und wichtig, denn es durchbricht den analytischen Rahmen der Nation, den viele Historiker immer noch für zu selbstverständlich nehmen. Veyrassat gelingt es ausgezeichnet, Schweizer Geschichte und Globalgeschichte aufeinander zu beziehen und durch Beispiele von Schweizern oder aus der Schweiz anzureichern. In steter Bewegung, mal einzoomend auf lokale Brennpunkte und wieder auszoomend auf globale Entwicklungen, verbindet sie Schauplätze in Europa und Übersee mit der Schweiz. So findet Schweizer Geschichte in Amsterdam und Paris, in Cortaillod und Wattwil, in Havanna und Batavia statt.

Das Werk ist in drei thematische Teile gegliedert, die zeitlich etwa einem Jahrhundert entsprechen. Im ersten geht es um die Partizipation von Söldnern aus der Schweiz an der europäischen Expansion in Asien im 17. Jahrhundert. Dabei kommen auch die Kontakte der Westschweizer Uhrenindustrie im Osmanischen Reich und in China zur Sprache. Der zweite Teil (18. Jahrhundert) dreht um Plantagen, Baumwolle, Indiennage, Sklaverei und Kapitalismus. Der dritte Teil, der das lange 19. Jahrhundert abdeckt, berührt Textil-, Uhren- und Maschinenindustrie sowie die politisch-diplomatischen Strategien des international tätigen Bürgertums in der Schweiz. Spezielle Aufmerksamkeit gilt den Übergangsperioden 1780–1830 und 1870–1914, in denen sich die Globalisierung intensivierte.

Das Buch ist in seinen Grundaussagen vorsichtig und differenziert. Die Rede von einem schweizerischen Imperialismus oder der kolonialen Schweiz lehnt Veyrassat ab. Stattdessen bevorzugt sie den Begriff der Kolonialität von Bouda Etemad und Mathieu Humbert,1 welcher der Schweiz eine eher reaktive als aktive Rolle gegenüber dem Kolonialismus der Grossmächte zuspricht. Die Schweiz sieht sie nicht als lachenden Dritten,2 der den Freihandelsimperialismus der Briten nutzt und von einem Bonus als neutrale Macht profitieren kann. Der wirtschaftliche Erfolg der Exportwirtschaft sei eher dem Engagement von Kaufleuten in Übersee, der Suche nach Nischen und der Spezialisierung der Industrie zu verdanken. Ausserdem haben die Kolonien beim Aussenhandel wie bei den Kapitalbewegungen eine geringe Rolle gespielt – der überwiegende Teil des Handels habe mit Europa und Nordamerika stattgefunden.

Veyrassats Zurückhaltung – um nicht zu sagen Abneigung – gegenüber grossen
Thesen wird aufgewogen durch eine Vielzahl von kleineren Befunden, von denen hier nun einige erwähnt seien. Die Beziehungen der Schweizer zu den Kolonialmächten spiegeln die wechselnden globalen Machtkonstellationen. Im 17. Jahrhundert war die Niederlande und ihre Ostindienkompanie der privilegierte Zugang für Schweizer zur Welt ausserhalb Europas. Tausende Schweizer fanden Anstellung bei der VOC, meist mit traurigem Schicksal. Doch einige wenige kehrten mit einem Vermögen heim – und Erinnerungen, welche ihre Zeitgenossen in Kontakt mit der aussereuropäischen Welt brachteund ihre Imagination beflügelte.

Im 18. Jahrhundert verschob sich das Zentrum des Welthandels von Asien in den atlantischen Raum. Wiederum fanden Schweizer vor allem über die Niederländer und ihre Westindische Kompanie (WIC) Zugang zum atlantischen Dreieckshandel. Einige konnten sich in der Plantagenwirtschaft etablieren, viele heuerten als Söldner an, und manche engagierten sich in Amsterdam im Handel und dessen Finanzierung. Dabei lernten die eidgenössischen Kaufleute – zum grossen Teil Hugenotten aus Genf, Neuenburg und Basel – das «holländische Modell»: Die Niederländer, zu wenig mächtig, um sich auf den amerikanischen Kontinenten und der Karibik grosse Gebiete sichern zu können, boten den anderen Seemächten ihre Dienste als Handelsintermediäre an (S. 117).

Im 18. Jahrhundert spielte Frankreich die wichtigste Rolle für den Schweizer Anschluss an die Weltwirtschaft. Dabei profitiert die Eidgenossenschaft doppelt von politischen Beschlüssen der französischen Krone: Die Aufhebung des Edikts von Nantes brachte viele Hugenotten in die Schweiz und mit ihnen Know-how in der Textilproduktion sowie Handelsverbindungen. Das gleichzeitige Verbot der Herstellung und des Handels mit Indiennes in Frankreich gab der «industrious revolution»3 in der Schweiz den nötigen Impetus. Als die französische Krone diese 1759 wieder zuliess, spielten Unternehmer aus der Schweiz eine zentrale Rolle im Wiederaufbau der Branche. Ebenso beteiligten sich Hugenotten aus Genf namhaft an den neuen Ostindienkompanien Frankreichs und deren Finanzierung.

Im langen 19. Jahrhundert war das britische Modell die Richtschnur für die Schweizer Exportindustrie. Die Kontinentalsperre und der nachnapoleonische Protektionismus zwangen die britische Industrie zum Ausweichen nach Südamerika, ins Osmanische Reich sowie Süd- und Südostasien. In ihrem Fahrwasser bewegte sich die schweizerische Textilindustrie. Sie nutzte die Bedingungen, die ihr der britische Freihandelsimperialismus schuf.

Das Buch ist reich an Details und Verbindungen. Die stärksten Partien liegen im zweiten Teil, in dem Veyrassat die Veränderungen der Konsumwelt des 18. Jahrhunderts, die Protoindustrialisierung und den Kolonialhandel nebeneinanderstellt. Ihre Schlussfolgerungen bleiben für ein Buch von 359 Seiten allerdings etwas unverbindlich.

1 Bouda Etemad, Mathieu Humbert, La Suisse est-elle soluble dans sa «postcolonialité»? in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 64/2 (2014), S. 279–291.
2 Richard Behrendt, Die Schweiz und der Imperialismus. Die Volkswirtschaft des hochkapitalistischen Kleinstaates im Zeitalter des politischen und ökonomischen Nationalismus, Zürich 1931.
3 Jan de Vries, The Industrious Revolution. Consumer Behavior and the Household Economy, 1650 to the Present, New York 2008. Das Konzept stammt nicht von ihm selbst, sondern er verweist auf den japanischen Historiker Akira Hayami.

Zitierweise:
Zangger, Andreas: Rezension zu: Veyrassat, Béatric: Histoire de la Suisse et des Suisses dans la marche du monde (XVIIe siècle – Première Guerre mondiale). Espaces – Circulations – Échanges, Neuchâtel 2018. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (2), 2020, S. 313-315. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00063>.

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